Episode 1

Die Zeit, in der die Dämmerung in einem unverkennbaren bläulichen Farbton erstrahlt, die Tage kürzer werden und der Wind schärfer durch die Bäume zischt, lässt erahnen, dass sich allmählich der Winter nähert.

Beim Flanieren durch die Straßen fallen die warmen Lichter der Fenster ins Auge und überall steigt der Duft von gebrannten Mandeln empor. Es liegt eine besinnliche Ruhe in der Luft, die nur durch die Hektik der Vorbereitungen der Festtage unterbrochen wird.

Fieberhaft wird versucht, die perfekten Geschenke für die Liebsten zu organisieren. Dieser Tag ist für meine Familie bedeutungsvoll und wenngleich es keine Rolle spielt, was verschenkt wird, so ist es mir wichtig, an diesem Tag ein kleinwenig Freude zu verteilen.

Vor langer Zeit hat sich meine Mama als unser Lieblingswichtel entpuppt. Jahr um Jahr widmet sie sich hingebungsvoll dieser Jahreszeit. Im November kann ich schon spüren, wie ihre Vorfreude steigt, bald die Schränke im Keller zu durchforsten, um endlich die Weihnachtskartons auszupacken. Es wird dekoriert, was das Zeug hält. Holzwichtel nehmen ihren gewohnten Platz ein, Sofakissen werden mottogerecht getauscht und Lichter installiert. Die Fensterbänke machen Platz für die Schwibbogen, welche pünktlich zum Abendlicht beginnen zu funkeln.

Und dann ist da natürlich die Sache mit dem Weihnachtsbaum. Diesem Thema könnte ich sicher ein ganzes Kapitel widmen. Kurzum, er darf nicht zu groß und nicht zu klein sein. Die Proportionen müssen stimmen und wehe er nadelt zu früh.
Meistens ist es mir gelungen, mich diesem Thema zu entziehen. Das war immer die Aufgabe meiner Eltern. Ob selbst gefällt, oder im Baumarkt erhascht, der Baum war jedes Jahr, liebevoll geschmückt der Mittelpunkt in der gemütlichen Stube meines Zuhauses.

Das Festmahl ist geplant und die letzten Geschenke sind verpackt. Heiligabend steht vor der Tür. Wie jedes Jahr trudle ich am Nachmittag zum Kaffeetrinken ein. Während wir in dem einen Moment genüsslich Gebäck schlemmen, so warte ich im nächsten schon auf den alle Jahre wiederkehrenden Startschuss meines Vaters, der nichts weiter sagen brauchte als: „So, wollen wir?!“. Ab diesen Moment wurde es unruhig. Hektisch wurde der Tisch abgeräumt und die Spülmaschine bestückt bis unsere Chefin auf den Dachboden verschwand, wo sie die Präsente versteckte. Diesen Zeitpunkt passten Papa und ich immer ab und unser wildes Getuschel nahm seinen Lauf. Wir hielten letzte kurze Absprachen und ich übergab ihm sein Geschenk für Mama.
Jeder hatte seine Rolle. Er besorgte seine Geschenke und ich diente als Einpackhilfe. Dreamteam. Auch in dieser Angelegenheit.

Alljährlich verschwand er danach in seiner Werkstatt im Keller, sodass ich schnell die Gaben für meine Eltern aus dem Kofferraum schmuggeln konnte.
Ab dann warteten wir gespannt, bis wir die verzauberte Stube wieder betreten durften. Der Moment wurde immer musikalisch untermalt. Zu „Süßer die Glocken nie klingen“ tapsten wir voller Vorfreude zu unserem Wichtel. Nachdem wir uns in den Armen lagen, auf Weihnachten angestoßen und schnell ein Selfie machten, ging es los. Einer nach dem anderen. Wobei ich als Kind immer das Vorrecht hatte. Recht praktisch an dieser Stelle den Staus „Kind“ nie abgeben zu können.

Doch was mir in Erinnerung bleiben wird, ist der Moment, in dem mein Papa seine Geschenke auspacken durfte. Der Gedanke daran überträgt sein Strahlen dabei direkt auf mich. Wie lief das ab?! Zunächst nahm er sich ein Päckchen aus seiner Weihnachtstüte. Von allen Seiten wurde es betrachtet, kurz geschüttelt, um zu schauen, ob das Geräusch den Inhalt erkennen lässt.
Über die Jahre hinweg war seine Auspack-Technik erprobt. Er fackelte nicht lang und probierte gar nicht erst die Verpackung mit bloßen Händen es zu öffnen. Nein. Stilecht zückte er sein Taschenmesser, um mit chirurgisch präzisen Schnitten die Schleife und das Klebeband zu obduzieren.

Das wiederholte er bei jedem einzelnen Geschenk. Ich war süchtig nach diesem Augenblick. Und ich bin mir sicher, meine Mutter ebenso. Denn unausgesprochen haben wir jedes noch so kleine Präsent in Papier gehüllt, um das einmalige Strahlen meines Papas zu erleben. Es war nie wichtig, was sich hinter dem Papier verbirgt. Es ging schlicht weg um die Geste und die Freude des Enthüllens. Der Gedanke an seine leuchtenden Augen, sein Grinsen und sein verspieltes Getänzel, weckt in mir Sehnsucht, auch wenn ich, mehr denn je, dankbar bin, diese Momente des Glücks mit ihm geteilt zu haben.

Dezember, wie das gesamte Jahr 2020 war geprägt von der Corona-Pandemie. Wir alle waren in vielerlei Hinsicht eingeschränkt. So mussten auch wir den gemeinsamen Urlaub stornieren. Nichtsahnend und voller Frohsinn warfen wir gemeinsamen einen Blick in die Zukunft und es stand fest, dass wir die verpatzte Reise nachholen wollten. Immer in der Hoffnung, dass die Pandemie abflacht und wir bald wieder die Möglichkeit haben, zu unserer gewohnten Normalität zurückkehren zu können.

New York und Florida stand ganz oben auf dem Zettel. Ich weiß noch, als wir den Trip buchten, habe ich wie ein kleines Mädchen gequengelt, dass wir unbedingt ins Disneyland müssen. Der Wunsch, einen wahrhaftigen Familientraum dort zu erleben, liegt schon viele Jahre zurück. Zu meinem 10. Geburtstag haben meine wundervollen Schöpfer keine Kosten und Mühen gescheut, mir einen unvergesslichen Wiegentag im Disneyland Paris zu organisieren. Mit jeglichem Schnickschnack. Torte, Goofy, und Co. alle wären auf meiner Party dabei gewesen. Meine Freude reichte ins Unermessliche. Alles vorbereitet, Koffer gepackt, der Bus bereit. Dann die Erkenntnis. Wir können nicht fahren. Ich bin krank.
Diese Situation hängt mir bis heute nach und erklärt, wieso ich die Gelegenheit beim Schopfe packen musste und diese einmalige Chance unbedingt nutzen wollte. Zwar mit 22 Jahren Verzug, dafür sicher umso amüsanter.

Zu diesem Zeitpunkt ahnte keiner von uns, dass es einen anderen Grund als die Pandemie gab, warum wir es nicht mehr geschafft haben unsere Träume wahr werden zu lassen. Hätte uns jemand gesagt, dass dies unser letztes gemeinsames Weihnachten sein sollte, so hätten wir es sicher nicht geglaubt.

Rückblickend erkenne ich, dass kurz nach dem Jahreswechsel unser Countdown eingeläutet wurde.

Bei meinem Neujahrsbesuch haben wir auf ein tolles neues Jahr angestoßen, uns auf viele bevorstehende Ereignisse gefreut und uns Gesundheit gewünscht.

Ein paar Tage später bekam ich einen Anruf meiner Mutter, die mir mitteilte, dass sie Papa in die Klinik gebracht hat. Wegen der Corona-Bestimmungen durfte sie ihn vor Ort nicht beistehen. Meine Wohnung liegt unweit entfernt, so kam sie kurzerhand zu mir und wir haben gemeinsam auf eine Rückmeldung meines Vaters gewartet. Es dauerte ewig, bis er sich gemeldet hat.

Sorgen breiten sich immer aus, wenn es einem geliebten Menschen schlecht geht. Doch es bahnte sich nichts an und von heute auf morgen dann das. Als er sich gegen Mitternacht gemeldet hat, stand fest, dass er stationär aufgenommen wird. In den darauffolgenden Tagen führten die Ärzte eine Reihe von Untersuchungen durch, mit dem Resultat ein paar Stellschrauben der Ernährung anzupassen. Danach wurde er aus Sicht der Mediziner gesund aus der Klinik entlassen.

In diesem Moment schien alles in Ordnung und es war nichts, was uns großartig Sorgen bereitete. Doch was folgte, änderte alles.

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